In gärtnerischen Texten ist neuerdings häufig die Rede von „Vagabunden" im Garten.
Gemeint sind Pflanzen, die sich durch Aussaat beständig erneuern müssen, um dauerhaft zu überleben. Vagabund bedeutet so viel wie Streuner oder Herumtreiber und ist mittlerweile wohl weitestgehend aus unserem Wortschatz verschwunden.
Ich erinnere mich jedoch noch genau daran, dass meine Oma früher gerne meinen etwas umtriebigen Großvater so betitelte, wenn er am Wochenende mit seinen Kumpels durch die Kneipen zog. Genau wie bei meinem Opa kann man auch bei den botanischen Vagabunden nie vorhersehen, wo und wann sie möglicherweise wieder erscheinen werden. Sie verschwinden frecherweise an den ihnen zugedachten Plätzen im Beet und tauchen an völlig unerwarteten Stellen plötzlich wieder auf. In meinen ersten Jahren als Gärtnerin war mir das deutlich zu viel Anarchie in den Staudenbeeten, daher standen diese eigensinnigen Föderalisten nie auf meiner Einkaufsliste.
Inzwischen aber liebe ich sie und freue mich auf die Entdeckungsreise durch meinen Garten, wie ein Kind aufs Ostereier-Suchen. Grundvoraussetzung für ein Aha-Erlebnis ist natürlich, die Blütenstände im Herbst nicht abzuschneiden, damit diese auch in Saat gehen können. Ob und wo die jungen Sämlinge dann aufgehen werden, ist immer wieder eine Überraschung. Steht der Wind so günstig, dass die Samen auch wirklich in meinem eigenen Garten landen? Kommt vielleicht ein hungriges Vögelchen vorbei und schlägt sich den Bauch damit voll? Oder werden die empfindlichen Samen gar vom Dauerregen heruntergespült und ertränkt? Wenn tatsächlich alle Voraussetzungen für eine Aussaat erfüllt sind und man die frischen Keimlinge nicht schon im Wahn einer vorsaisonalen Unkrautvernichtungs-Aktion aus Versehen herausgerissen hat, werden vielleicht bald die ersten Kinder und Kindeskinder den Garten erobern.
Ein gutes Beispiel für einen erfolgsverwöhnten Vagabunden ist das Spanische Gänseblümchen (Erigeron karvinskianus 'Blütenmeer'), welches sich innerhalb der letzten Jahre überall in meinem Garten versamt hat. Es benimmt sich, als wollte es die Weltherrschaft an sich reißen und ist ein absoluter Minimalist, was die Standortansprüche angeht. Ihm reicht schon eine winzige Fuge im Gartenweg oder ein Krümelchen unbewachsene Erde im Staudenbeet um seine zarten Blättchen zu entfalten. Ab Mai bildet es dann unzählige kleine Gänseblümchen-Blüten, die einfach allerliebst aussehen, so dass man ihm nicht einmal böse sein kann, wenn es seine neugierigen Triebe bis in den Rasen wandern lässt. Als Dankeschön für die ihm zugestandene räumliche Unabhängigkeit, blüht es als wenn es kein Morgen gäbe und das oft sogar ohne Pause bis zum ersten Frost. Hoffentlich bleibt es ein Dauergast in meinem Garten! Ich überlasse ihm dafür auch gerne die Weltherrschaft, zumindest innerhalb meines kleinen Reichs.
Ein weiterer Kandidat meiner Lieblings-Rumtreiber ist der Fingerhut (Digitalis purpurea). Er ist zweijährig und bildet im ersten Jahr lediglich eine Blattrosette, die dann im Jahr darauf eine unfassbar schöne und auffällige Blüte hervorbringt. Eine seiner mitgelieferten „Zusatzfunktionen“ ist das Spiel „Fang das Fingerhütchen“, welches man jedes Jahr auf Neue mit ihm spielen kann. Spielanleitung: Suche seine Babyrosetten und pflanze sie um. Wenn nach zwei Jahren immer noch an dieser Stelle ein Fingerhut wächst, hast du gewonnen und bekommst einen Punkt. Leider ist das Spiel etwas langwierig und meist gewinnt eh der Fingerhut, denn er bleibt äußerst selten genau dort, wo er ursprünglich vom Gärtner vorgesehen war.
Auch das Eisenkraut (Verbena bonariensis) treibt gerne Schabernack mit seinen Bewunderern. Ich gestehe, dass ich seit Neustem mit meiner Lesebrille auf der Nase jäte, um die zarten Sämlinge nicht zu übersehen, die an den merkwürdigsten Stellen im Garten ihre Keimblätter entfalten. Gott sei Dank zeigen sie schon früh ihre stark gezahnten Blattränder, so dass man sie gut von der übrigen Spontanvegetation unterscheiden kann. Im weiteren Jahresverlauf schieben sie ihre Blattstiele in ungeahnte Höhen und tanzen ab Juni ihren zauberhaften Blütenreigen, der bis in den Spätherbst andauert. Fühlen sie sich wohl, mutieren sie schnell zur Großfamilie. Solange sie kein Kindergeld beantragen, kann ich damit aber gut leben.
Wer häufig unter schlechter Laune oder akuter Unlust leidet, dem verschreibe ich den Zweijährigen Sonnenhut (Rudbeckia triloba 'Takao'). Er ist rezeptfrei in jeder gut sortierten Staudengärtnerei zu bekommen und garantiert ohne Nebenwirkungen. Anwendungsempfehlung: Einfach einpflanzen, warten bis er blüht, dann zweimal täglich ins Beet stellen, tief einatmen und den Blütenrausch genießen! Schon ist die schlechte Laune wie weggeblasen und man kann wieder mit Freude an die Arbeit gehen. Am richtigen Standort bekommt er soviel Nachwuchs, dass man sogar auch noch den muffeligen Nachbarn damit therapieren kann, sofern er denn für pflanzliche Medizin empfänglich ist.
Eine Pflanze, die ich erst in letzen Jahren schätzen gelernt habe, ist die Kronen-Lichtnelke. Ihr botanischer Name Lychnis coronaria hat nichts, aber auch rein garnichts, mit dem fiesen Virus zu tun, der seit 2020 ein weltweites und ständiges Thema ist. Umso schöner, dass es auch positive Verknüpfungen mit dem Wort Corona gibt, die einem viel Freude machen können. Denn das kann dieses purpurrote Knallbonbon im Staudenbeet. Ihre unglaubliche Leuchtkraft ist kaum zu übertreffen und schreit dem Betrachter schon aus der Ferne zu: „Schau her, hier bin ich und wo ich bin ist Party!“ und das ist nicht nur so daher gesagt!
Etwas ruhiger und gesetzer ist dagegen die Königskerze (Verbascum thapsus ssp. thapsus). Ihre Majestät thront quasi über den Dingen, bzw. über den anderen Stauden. Aus etwa 1,80 m Höhe schaut sie in ihrem dezenten, hellgelben Gewand huldvoll auf alle Untergebenen herab und stellt Ordnung und Struktur her. Wie es sich für eine königliche Hoheit geziemt, hat sie besondere Ansprüche an ihren Standort. Neben einer guten Küche, sprich guter Nährstoffversorgung, ist ihr ein durchlässiger und trockener Boden ein großes Anliegen, denn nasse Füße sind ihr zuwider. Ist die Sonnenanbeterin mit ihrem Lebensraum glücklich und zufrieden, schenkt sie dem Gartenfreund zuverlässig viele kleine Prinzessinnen und Prinzen.
Es gibt noch jede Menge andere, hier ungenannte Streuner, die den eigenen Garten unglaublich bereichern und mehr Spannung in die Beete bringen. Ich für meinen Teil kann Ihnen nur empfehlen sich einmal auf das Abenteuer „Vagabunden im Garten“ einzulassen. Es lohnt sich!
Text: Marion Hüning